Wasserkraft im Dilemma: Ein Besuch in der Grimselregion

· by Daniel Viviroli · in Sustainability, What's new

Die Alpen sind das «Wasserschloss Europas». Sie erzeugen überproportional viel Abfluss und eignen sich wegen ihrer ausgeprägten Topografie sehr gut für die Erzeugung von Strom aus Wasserkraft. Theoretisch liesse sich mit dem Abfluss in der Schweiz pro Jahr etwa 20 Mal so viel Strom produzieren wie mit dem Kernkraftwerk Leibstadt. Praktisch gesehen steht aber nur etwa ein Fünftel dieses Potenzials zur Verfügung: Nicht alle Standorte sind geeignet, Hochwasserabflüsse lassen sich schlecht verarbeiten, Leitungen und Anlagen erzeugen Verluste, und ökologische Anforderungen sind zu berücksichtigen. Dieses tatsächliche Potenzial wird heute bereits zu einem grossen Teil ausgeschöpft.

Eine intensiv für Wasserkraft genutzte Region ist das Oberhasli im Berner Oberland – und dort besuchte die Abteilung «Hydrologie und Klima H2K» Ende September den Grimselstausee und die Baustelle zum Ersatz der bestehenden Staumauer. Trotz des trüben Wetters beeindruckte die von Gletschern geschliffene Rundhöckerlandschaft am Nordufer des Sees. Grosse und kleine Moore mit ihrer vielfältigen Flora fielen ins Auge, ebenso wie ein lockerer Arven-Urwald im Uferbereich. Das Gebiet ist als Moorlandschaft von besonderer Schönheit und nationaler Bedeutung geschützt, und die Moore sind dank Fehlen von Beweidung in einem sehr guten Zustand.

Mitglieder der Abteilung «Hydrologie und Klima H2K» zu Besuch am Grimselstausee.

Ursprünglich eine der höchsten Talsperren der Welt

Die Bogengewichtsmauer «Spitallamm» gehörte bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1932 zu den höchsten Talsperren der Welt. Gegenwärtig wird sie durch eine gleich hohe neue Bogenstaumauer ersetzt, welche unmittelbar talwärts hochgezogen wird. Bei unserem Besuch erfuhren wir unter anderem, dass wegen der Wärmeentwicklung beim Abbinden der grossen Betonmassen eine Wasserkühlung in die Mauer mit einbetoniert wird. Der etappenweise Bau über mehrere Jahre ermöglicht ebenfalls ein Auskühlen und trägt der kurzen Bausaison im Hochgebirge Rechnung. Nach Fertigstellung der neuen Staumauer wird die alte einen Durchschlag erhalten und im minim vergrösserten Stausee stehen bleiben.

Blick auf die neu entstehende Bogenstaumauer, mit der alten Mauer am unteren Bildrand
Detail der alten Bogengewichtsmauer «Spitallamm»

Stauseen überbrücken Stromengpässe

Mit dem Krieg in der Ukraine und der angespannten Lage bei Strom und Gas ist die Wasserkraft stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ende Winter könnte das in den Stauseen gespeicherte Wasser zum Überbrücken von Stromengpässen dienen, und trotz trockenem Sommer ist der Füllstand der Seen zurzeit leicht überdurchschnittlich. Grund dafür sind die Niederschläge im Herbst und je nach Region zusätzlich das starke Schmelzen der Gletscher im Sommer. Zudem wird in den Stauseen bis in den Frühling hinein eine Wasserreserve vorgehalten werden.

Bereits seit langem wird debattiert, an welchen Standorten sich die Produktions- und insbesondere die Speicherkapazitäten erweitern liessen. An einem «Runden Tisch Wasserkraft» wurde unlängst ein Konsens zu den meistversprechenden Projekten vereinbart – unter anderem mittels einer Abwägung zwischen möglicher Speicherkapazität und dafür nötigen Eingriffen in Biodiversität und Landschaft.

Diese Debatten betreffen auch die Grimselregion: Ein erstes Konzessionsgesuch für eine Vergrösserung des Grimselstausees wurde 1988 eingereicht, 1999 wurde das heute noch aktuelle Projekt vorgestellt, welches eine Erhöhung des Seepegels um 23 Meter vorsieht. Es würde das Speichervolumen des Sees um etwa 80% vergrössern, würde aber auch Teile von Moorlandschaft und Arvenwald fluten. Die Ausbaupläne stiessen bei den Umweltverbänden auf Widerstand, es folgte ein langjähriger Rechtsstreit.

Einschneidende Konsequenzen für Ökosysteme und Naturraum

Am Beispiel der Grimsel zeigt sich das Dilemma der Wasserkraft: Der produzierte Strom stammt aus einer erneuerbaren Quelle und ist weitestgehend klimaneutral, es sind aber auch bedeutende Auswirkungen auf Ökosysteme und Landschaften in Kauf zu nehmen. Insbesondere in der Schweiz, wo der allergrösste Teil der geeigneten Standorte bereits genutzt wird, ist ein Ausbau der Wasserkraft somit notgedrungen kontrovers: Welche Eingriffe sind vertretbar, wo sollen sie erfolgen, und unter welchen Rahmenbedingungen? Wie viel wiegt die Versorgungssicherheit? Angesichts der diesen Winter drohenden Mangellage wurde im Interesse von Stromproduktion und Wasserkraftausbau sogar vorgeschlagen, den Vollzug der relevanten Umweltschutzbestimmungen zu sistieren, zum Beispiel was Restwassermengen und Landschaftsschutz betrifft. Die Konsequenzen für Ökosysteme und Naturraum wären jedoch einschneidend.

Nach jüngsten Entscheiden des eidgenössischen Parlaments zur Energiesicherheit ist eine Dammerhöhung an der Grimsel wieder etwas näher gerückt. Wie nahe genau und mit welchen allfälligen Ausgleichsmassnahmen ist gegenwärtig allerdings noch unklar.

Aktueller Füllungsgrad der Speicherseen in der Schweiz

Gemeinsame Erklärung des Runden Tisches Wasserkraft, 13.12.2021

Daniel Viviroli

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