Wo ist für dich die Natur ‘intakt’?
Welche Art von alltäglichen Beziehungen zur Natur haben lokale Akteur*innen in regionalen Schweizer Naturpärken? Welche Werte verbinden sie damit? Ein Modul des Projekts ValPar.CH – Werte der Ökologischen Infrastruktur in Schweizer Pärken erforscht diese Fragen mittels partizipativen Kartierens in Workshops vor Ort. Damit lassen sich die vielfältigen gesellschaftlichen Werte von Natur und Landschaft erfassen und für Landnutzungsentscheide sichtbarer machen.
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Menschen schätzen die Natur nicht nur aufgrund des materiellen Nutzens wie z.B. Lebensmittel, die sie ihnen bringt. Sondern sie bauen Beziehungen zu ihr auf, die komplexer, räumlich und zeitlich explizit sind und sich nicht einfach in Naturleistungen fassen lassen. Diese lange vernachlässigten sogenannten ‘relationalen Werte’ bekommen vermehrt Aufmerksamkeit in der Umweltforschung sowie in ‘Science-Policy’-Plattformen wie IPBES (siehe Deplazes-Zemp & Chapman 2021, IPBES o.D.).
Durch Alltagsaktivitäten werden starke Beziehungen zur Natur aufgebaut
«Schön finden kann man nur die Sachen, die man kennt, wo ich Zeit habe […] und einen Teil meines Lebens drin verbringe. […] Wo man arbeitet …, ist man daheim. Das wächst einem ans Herz.», brachte eine Workshop-Teilnehmerin Alltagsaktivitäten und Zugänglichkeit als Grundlagen für ihre Wertschätzung und die dadurch entstehenden persönlichen Beziehungen zur Natur auf den Punkt. Die mit allen Sinnen wahrgenommenen Erlebnisse und Verbindungen mit der Landschaft sind zentral für die Lebensqualität. Beispielsweise schätzen viele Teilnehmende die Natur für die Erholung, aber auch als Teil einer sehr aktiven Interaktion im (Berufs-)Alltag. So können schöne Spazierwege, aber auch die eigene Pferdekoppel zu sehr bedeutenden Orten in der Landschaft werden. «Einerseits ist da Boden von meiner Familie, den ich am Übernehmen bin. […] Und ist einerseits Arbeitsort und Inspirationsort im gleichen Ort und auch schöne Aussicht und schön zum Laufen. Da kommt sehr viel zusammen bei mir momentan. Und sehr viel auch Geschichte. Meine Grosseltern hatten da schon ihre Rebberge», fasste ein Teilnehmer die vielfältigen Landschaftswerte zusammen.
Landschaftselemente mit deutlich negativer Bewertung sind hauptsächlich als schlecht integriert und zu massiv wahrgenommene Bauten in der Landschaft, beispielsweise mit traditionellen Baustilen brechende Neubauten, asphaltierte Strassen, Industriegebiete, Staubecken oder Kieswerke: «Ich bin selber Bauer [Bäuerin] und du kriegst Tränen, wie die Wiesen mit Meliorationsstrassen verschnitten sind von dieser Seite und bist froh, wenn die Alten das nicht gesehen haben. […] Da blutet einem das Herz. Diese ausgebauten Kurven mit diesen Pseudo-Natursteinmauern. Mit extrem viel Geld hat man dort bestehende Natursteinmauern weggerupft [abgerissen], die gehalten hatten. Das tut mir jeden Tag weh, wenn ich hochfahre», beschrieb eine Teilnehmerin ihre emotionale Reaktion auf Landschaftsveränderungen. Auch die Sorge vor übertriebenem Tourismus und Andrang führt zu negativen Bewertungen von ansonsten positiv konnotierten Orten.
‘Intakte Natur’ ist nicht zwingend unberührt
Die ‘intakte Natur’ beschrieben die Teilnehmenden unterschiedlich – meistens jedoch nicht als die unberührte Wildnis. Oft wurden vom Menschen (sanft) beeinflusste Landschaften genannt, die sich dynamisch verändern und von denen Kultur auch ein Teil ist. Ein pensionierter Förster beschrieb einen Wald: «Dort haben wir den alten Bestand abgelöst, aber alles mit Naturverjüngung und dort kommt der Nussbaum, der Kirschbaum üppig vor. Es ist interessant. […] Heute haben wir dort einen Zukunftsbestand, einen Wald mit dieser Zusammensetzung, der auch wahrscheinlich unserem Klima da die Stirn bieten kann, nicht gleich ausfällt. Das ist die Zukunft und vom Bestand her und so weiter intakt». Orte mit einem Risiko für Naturkatastrophen wie z.B. Steinschläge bewerteten die Teilnehmenden nicht zwingend negativ, sondern akzeptierten gewisse Risiken als dazugehörig.
Partizipatives Kartieren als Diskussionsgrundlage Partizipatives Kartieren ist eine geeignete Methode, um die Wahrnehmung (kultureller) Ökosystemleistungen bzw. Naturwerte räumlich zu erheben (siehe z.B. Karimi & Raymond 2022). In den vier regionalen Naturpärken Parc naturel régional Gruyère Pays-d’Enhaut, Naturpark Pfyn-Finges, Jurapark Aargau und Naturpark Beverin führten wir zwischen November 2022 und Januar 2023 je einen Fokusgruppenworkshop durch. Die insgesamt 51 Teilnehmenden leben und/oder arbeiten in den Regionen und haben dadurch individuelle Beziehungen zu ihrer naturnahen Umgebung. Zuerst liessen wir die Teilnehmenden auf einer gedruckten Karte der Region je drei für ihren Alltag bedeutende (‘Hotspots’) sowie unbedeutende Orte (‘Coldspots’) in der Natur markieren. In einer zweiten Runde markierten die Teilnehmenden Orte, wo sie die Natur als intakt empfinden. Das Kartieren ermöglichte eine vertiefte Diskussion von Naturbedeutungen und –konzeptionen. Die Diskussionen nahmen wir mit einem Audiorekorder auf und codierten sie nach Wertekategorien. Die Markierungen auf den Karten digitalisierten wir mit ArcGIS Pro. |
Bedeutung für die ökologische Infrastruktur
Im Gegensatz zum starken Gegenwartsfokus von bekannten Werte-Frameworks (z.B. Ökosystemleistungen) hat unsere Erhebung gezeigt, dass die Geschichten der Teilnehmenden eine starke zeitliche Dimension aufweisen: Insbesondere die gelebte Vergangenheit, aber auch Überlieferungen ihres sozialen Umfelds wie z.B. die Lebensrealitäten und Erzählungen ihrer Vorfahren in der Region spielen eine Rolle, warum die Natur oder gewisse Landschaftselemente eine Bedeutung erhalten. Somit sind die Naturwerte und –beziehungen einerseits individuell und andererseits gesellschaftlich geprägt.
Im Rahmen des Forschungsprojekts ValPar.CH werden unsere Resultate mit ökonomischen und ökologischen Erhebungen und Modellierungen zusammengebracht. Dadurch soll ein umfassendes Verständnis der Werte der ‘Ökologischen Infrastruktur’ entstehen und auch Werte einbeziehen, die nicht quantifiziert werden können. So versuchen wir auch, die prägende zeitliche Komponente in der Analyse zu berücksichtigen. Die ‘Ökologische Infrastruktur’ bezeichnet ein Netzwerk von Flächen, die für die Biodiversität wichtig sind. Bis 2040 soll die Schweiz über eine Ökologische Infrastruktur verfügen, die sektorübergreifend die langfristige Sicherung von naturnahen Lebensräumen gewährleisten soll und dadurch zur Bewältigung von Biodiversitätsverlust und Klimakrise beiträgt (BAFU 2022, Grêt-Regamey et al. 2021).
Der Einbezug individueller Werte in Entscheidungs- und Planungsprozesse macht diese nicht nur gerechter, sondern verbessert auch die Erfolgschancen von nachhaltigen Landnutzungsstrategien. Die Erhebung und Sichtbarmachung von relationalen Werten der Natur unterstützt eine umfassendere Wertschätzung von Landschaften in- und ausserhalb von Pärken und ein entsprechendes Management in Richtung einer nachhaltigen Transformation.
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt
ValPar.CH – Werte der Ökologischen Infrastruktur in Schweizer Pärken (2020–2024), finanziert im Rahmen eines Pilotprojekts des ‘Aktionsplans Strategie Biodiversität Schweiz (AP SBS)’ des Bundesamts für Umwelt (BAFU). Hier können Sie den ValPar.CH Email-Newsletter abonnieren.
Wir bedanken uns bei den Workshop-Teilnehmer*innen und beim Parkmanagement für die Unterstützung bei der Planung und Durchführung der Workshops.
Ein grosser Dank gilt unserem Projektteam: Dr. Roger Keller, Dr. Anna Deplazes Zemp, Dr. Franziska Komossa, Prof. Norman Backhaus, Alix d’Agostino, Nathan Külling, Dr. Amaranta Fontcuberta, Urs Steiger, Sergio Wicki
Literatur
Bundesamt für Umwelt (BAFU) 2022. Ökologische Infrastruktur. (Zugriff 21.03.2023)
Deplazes-Zemp A., Chapman M. 2021. The ABCs of Relational Values: Environmental Values That Include Aspects of Both Intrinsic and Instrumental Valuing. Environmental Values 30(6): 669–693.
Grêt-Regamey A., Rabe S.-E., Keller R., Cracco M., Guntern J., Dupuis J. 2021.
Arbeitspapier «Operationalisierung funktionierende Ökologische Infrastruktur».
ValPar.CH Working Paper Series, 1. ValPar.CH: Werte der Ökologischen Infrastruktur
in Schweizer Pärken.
IPBES o.D. Contrasting approaches to values and valuation. (Zugriff 21.03.2023)
Karimi A., Raymond C. M. 2022. Assessing the diversity and evenness of ecosystem services as perceived by residents using participatory mapping. Applied Geography 138, 102624.
Sehr spannender Beitrag! Das Verhältnis von Natur und Mensch genauer zu durchleuchten, ist eine sehr lohnenswerte Sache. Die Natur gibt uns so viel mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte.