Von prekärer Arbeit und unsichtbaren Menschen

· by Katia Soland · in Master's and PhD students projects, Research

Von Bonn über Bogotá, Kiel und São Paulo nach Zürich – so lässt sich Merlin Hebeckers Weg geografisch beschreiben. Was die Stationen verbindet, ist sein Interesse für soziale Ungleichheiten.

Seit dem 1. September 2025 ist Merlin Hebecker Doktorand in der Arbeitsgeografiean der Universität Zürich und Teil des DIZH Public Data Labs (PDL). Sein Doktorat über prekäre Arbeit gehört zu einem der vier Leuchtturmprojekte des PDL. In den nächsten vier Jahren wird er sich mit neuen Formen prekärer Arbeit befassen, zum Beispiel mit Arbeit, die über Online-Plattformen vermittelt wird, oder mit kurzfristigen Anstellungen, die statistisch nicht erfasst werden. Dass er einmal in der Wissenschaft tätig sein möchte, steht für Merlin früh fest. Die Arbeitsgeografie hingegen entdeckt er relativ spät.

Von der Wissenschaft angezogen

Während seines Bachelorstudiums in Geografie in Bonn stellt Merlin Hebecker fest, dass ihn der wissenschaftliche Betrieb und die theoretische Auseinandersetzung mit Themen sehr faszinieren. «Über ein Problem nachzudenken, tief einzutauchen, um zu verstehen, wie etwas funktioniert, und es erklären zu können, macht mir Spass», erzählt er. In Bonn engagiert er sich in der Fachschaft, geht auf seine erste Konferenz, den 61. Deutschen Kongress der Geografie an der Uni Kiel, und wird in den Vorstand von Geodach gewählt, der Vertretung deutschsprachiger Geografiestudierender. Sein Interesse gilt der Stadt: Wie funktionieren Städte? Welche Dynamiken wirken in Städten? Wie wirkt sich die lokale Gesetzgebung auf soziale Strukturen aus? Während seines Auslandssemesters in Kolumbien entdeckt er ein weiteres Thema für sich, die soziale Ungleichheit, erzählt Merlin: «In Bogotá habe ich gesehen, wie viel krasser die Ungleichheit wirkt, verglichen mit den Städten im globalen Norden. In Bogotá gibt es eine sehr reiche Elite im Norden und sehr arme Menschen im Süden der Stadt.» Seine Bachelorarbeit schreibt er über Medellín, nach Bogotá die zweitgrösste Stadt Kolumbiens. «Ich habe untersucht, wie sich das einst gefährlichste Viertel der Stadt, die Comuna 13, zu einem Touristenhotspot entwickelt hat», sagt er, und ergänzt: «Dazu habe ich Interviews mit Tour Guides gemacht und sie gefragt, wo ihre Touren durchführen und was sie den Teilnehmenden erzählen.» Merlin findet unter anderem heraus, dass diese Imageaufwertung der Comuna 13 exemplarisch ist für die ganze Stadt.

«Menschen, die in marginalisierten Stadtvierteln wohnen, stecken oft auch in prekären Arbeitsverhältnissen

Merlin Hebecker

Von der Stadtentwicklung zur Arbeitsgeografie

Das Forschungsinteresse für soziale Ungleichheit lässt ihn seit Kolumbien nicht mehr los. Während seines Masterstudiums der Stadt- und Regionalentwicklung in Kiel wählt Merlin soziale Ungleichheit als Schwerpunkt. Für die Masterarbeit zieht es ihn wieder nach Südamerika. «Im Master studierte ich ein Semester in São Paulo und entschied mich dann, auch meine Masterarbeit über diese Stadt zu schreiben. Ich habe zu lokalen Identitäten von marginalisierten Stadtteilen geforscht und dazu Lokaljournalist*innen interviewt, die versucht haben, den Diskurs über diese und in diesen Stadtteilen zu ändern», erzählt Merlin. Von der Stadtgeografie sei es nicht mehr weit zur Arbeitsgeografie, meint Merlin. «Denn Menschen, die in marginalisierten Stadtvierteln wohnen, stecken oft auch in prekären Arbeitsverhältnissen. Sie verdienen zu wenig, um zentraler zu wohnen. Und da sie weit weg vom Zentrum wohnen, müssen sie zusätzlich zu ihrer Arbeit oftmals lange Pendelzeiten in Kauf nehmen oder werden aufgrund ihres Wohnortes auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert – eine Prekaritätsspirale», erklärt er.

Qualitative Daten für Entscheidungsträger*innen

Am Ende seines Masters schaut sich Merlin nach einem Job um, bewirbt sich auf verschiedene PhD-Stellen, unter anderem auf die PhD-Stelle in der Arbeitsgeografie, die Teil des DIZH Public Data Labs ist und in der Forschungsgruppe von Karin Schwiter angesiedelt ist. «Ich dachte, die Stelle könnte gut zu mir passen, da ich ja bereits einen Zugang zu sozialer Ungleichheit und Prekarität hatte. Labour Geography hingegen hatte ich als Feld nicht auf dem Schirm», erzählt Merlin, und ergänzt lachend: «So rein von der Ausschreibung her war es nicht meine Traumstelle. Das hat sich dann rasch geändert, als ich eingeladen wurde und mich nochmals vertieft mit dem Thema auseinandergesetzt habe.» Der Ansatz von Karins Forschungsgruppe spricht ihn sehr an und Merlin merkt, dass er an verschiedenen Orten anknüpfen kann. Trotzdem sei die Arbeitsgeografie etwas Neues, das er sich erschliessen könne, was auch den Reiz der Stelle ausmache, so Merlin. Er schätzt zudem, dass die Stelle in ein grösseres Projekt, das Public Data Lab, eingebettet ist. «Dadurch ist mein PhD bereits teilweise vorstrukturiert, trotzdem verfüge ich über Freiheiten bei der Ausgestaltung», meint Merlin, und fügt an: «Sehr cool finde ich auch, dass unsere Arbeit in die Verwaltung und Politik weitergetragen und hoffentlich von politischen Entscheidungsträgern herangezogen wird.» Für datenbasierte Entscheidungen würden sehr oft quantitative Daten herangezogen, meint Merlin. In seinem Fall wären es dann qualitative Daten.

«Ich möchte versuchen, mit den Menschen zu arbeiten, sie vielleicht bei ihrer Arbeit zu begleiten und zu interviewen anstatt ihnen wertvolle Zeit zu nehmen

Merlin Hebecker

Der Bezug zum Raum

Noch steht Merlin ganz am Anfang seines Projekts. «Im Moment stelle ich bereits bestehende Daten zum Arbeitsmarkt zusammen und schaue mir an, wie diese strukturiert sind und erhoben werden», sagt Merlin. Er sucht aber auch nach dem, was nicht erhoben werde, und prüft, ob es bereits bekannte Lücken gebe. In einem nächsten Schritt wird er sich mit dem Statistischen Amt des Kantons Zürich über die Arbeitsmarktdaten und mögliche Lücken austauschen. «Später werde ich mich auch mit der Forschungsgruppe von Karin Schwiter und anderen Forschenden aus der Labour Geography austauschen. «Welche Branche oder welche Berufsgruppe ich mir anschauen werde, ist noch nicht festgelegt», sagt er, «Zudem überlege ich mir, wie ich den Prekaritätsbegriff auslege: Gehe ich von der geografischen Dimension aus oder von den Arbeitsbedingungen?» Als Geograf möchte Merlin zudem einen Bezug zum Raum schaffen. «Ich habe ein paar Ideen, wie ich das Geografische einbringen könnte», sagt er, «Die Verortung hängt aber stark von den Arbeitsformen und Berufsgruppen ab, die ich schliesslich untersuche: Handelt es sich um kurzweilige Arbeitsmigration, Transnationalität, also dass die Menschen in verschiedenen Ländern wohnen und arbeiten, lange Arbeitswege oder Care Chains, wenn zum Beispiel Menschen, die bei uns Care Arbeit leisten, in ihrer Heimat als Care Arbeitende fehlen.» Derzeit hat Merlin viele offene Fragen, die er im Verlauf der nächsten Monate klären wird.

Betroffenen eine Stimme geben

Die grösste Herausforderung für Merlin ist, Menschen zu finden, die bereit sind, offen mit ihm über ihre Arbeitssituation zu sprechen. «Menschen in einem prekären Arbeitsverhältnis sind stark auf ihre Arbeit angewiesen. Zu offen mit mir zu sprechen, könnte für sie bedeuten, ihren Job zu verlieren», vermutet Merlin. «Ich möchte deshalb versuchen, mit den Menschen zu arbeiten, sie vielleicht bei ihrer Arbeit zu begleiten und zu interviewen anstatt ihnen wertvolle Zeit zu nehmen», so Merlin weiter. Unabhängig von der Branche, für die er sich entscheiden wird, ist es ihm wichtig, den Menschen, die er interviewen wird, auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen eine Stimme zu geben. Nicht nur im Gespräch, wie er betont: «Neben den wissenschaftlichen Publikationen möchte ich auch Informationen herausgeben, die für Betroffene gut zugänglich sind und das Thema sichtbar machen. Ich erhoffe mir hier Inputs aus der Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste, die am Public Data Lab beteiligt ist.»

Merlin Hebecker hat einen Bachelor in Geografie der Universität Bonn. Seinen Master absolvierte er in Stadt- und Regionalentwicklung an der Universität in Kiel, mit dem Schwerpunkt soziale Ungleichheiten. Anschliessend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kiel, bevor er im September 2025 seine Dissertation zu prekärer Arbeit in der Forschungsgruppe Labour Geography an der Universität Zürich aufnahm.

Dieses Interview erschien zuerst auf der Website des DIZH Public Data Lab, eine Zusammenarbeit des Statistischen Amts des Kantons Zürich, Opendata.ch, der Universität Zürich (UZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

Katia Soland, Launch Koordinatorin des Public Data Labs

Foto: Joshua Zimmermann

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