«Leave no one behind»: Erfüllt das Velonetz der Stadt Zürich diesen Anspruch?
Wieviel das Velo im Stadtverkehr genutzt wird, hängt stark davon ab, wie sicher sich die Velofahrenden fühlen. Dabei gibt es grosse Unterschiede im Sicherheitsbedürfnis der verschiedenen Nutzer:innengruppen. Welche Routen für wen geeignet sind und was der geplante Ausbau des Velonetzes für sie bringt, hat eine Masterarbeit untersucht.
Auf dem Weg zur klimafreundlichen Stadt ist das Velo das Mobilitätsmittel der Zukunft. Wieviel es jedoch tatsächlich genützt wird, hängt massgeblich davon ab, wie sicher – oder aber auch wie gestresst – sich die Velofahrenden im Verkehr fühlen. Die vorhandene Veloinfrastruktur, das motorisierte Verkehrsaufkommen und das signalisierte Tempolimit spielen dabei eine Rolle.
Velofahrende sind keine homogene Gruppe
Wie viel Stress ein Velofahrer oder eine Velofahrerin im Strassenverkehr ertragen kann, ist sehr unterschiedlich. Radfahrerfahrung, Alter und körperliche Fitness spielen dabei eine Rolle. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Velofahrende Strassenabschnitte und Strecken, die ihre Stresstoleranz überschreiten, in der Regel meiden und sich stattdessen für andere Verkehrsmittel entscheiden.
Anhand der «Level of traffic stress» (LTS)-Methodologie lassen sich vier Gruppen von Velofahrenden unterscheiden. Die Gruppen 1 und 2 – «unsicher und unerfahren» und «interessiert, aber besorgt» – machen gemäss früheren Studien 70 bis 80% der velofahrenden oder velo-interessierten Bevölkerung (und circa die Hälfte der Gesamtbevölkerung) aus. Die Gruppen 3 und 4 – «fühlen sich meistens wohl» und «stark und furchtlos» – umfassen nur rund 20% der Gesamtbevölkerung. Ein knappes Drittel hat kein Interesse am Velofahren.
Stresslevel für jeden Strassenabschnitt
In meiner Masterarbeit habe ich nun jedem Strassenabschnitt in der Stadt Zürich, auf dem es möglich ist, Velo zu fahren, einen Stresslevel zugeordnet. Diese reichen von abgetrennten Velowegen mit entsprechend tiefer Stressbelastung (Level 1) über Velostreifen in der Quartierstrasse mit Tempolimit 30 (Level 2) bis zu Strassenabschnitten mit Tempolimit 50, Tramgleisen und keinerlei Veloinfrastruktur, die nur Velofahrende mit der höchsten Stresstoleranz (Level 4) nutzen. Die Klassifikation ist auf Basis von früheren Studien und im Austausch mit dem Tiefbauamt Zürich und Pro Velo Zürich für die Strassensituationen in Zürich erstellt worden.
Welche Gruppen können welche Netzwerke nutzen?
Auf Basis der klassifizierten Strassensegmente lässt sich nun bewerten, welche Wegnetze in der Stadt Zürich von den einzelnen Gruppen genutzt werden können. Die farbigen Linien in untenstehender Graphik geben dazu Aufschluss.
Gruppe 1 «unsicher und unerfahren» – dunkelgrün Gruppe 2 «interessiert, aber besorgt» – hellgrün Gruppe 3 «fühlen sich meistens wohl»– orange Gruppe 4 «stark und furchtlos» – rot |
Nutzbares Strassennetzwerk der Stadt Zürich in Bezug auf den Stresslevels: Links: Alle Gruppen — Rechts: nur Gruppe 1+2 (Vergleich der zwei Karten mit Pfeilen, zoomen mit + und – unten rechts, navigieren mit linker Maustaste, Attribute der einzelnen Segmente per Mausklick)
Dabei werden drastische Unterschiede offensichtlich: Radfahrende der Gruppe 2 – «interessiert, aber besorgt» – können sich in vielen Fällen nur im eigenen Wohnquartier bewegen. Von anderen Stadtteilen sind sie durch Strassen mit hoher Stressbelastung getrennt. Die Stadt zu durchqueren, ohne ihren Komfortbereich massiv zu verlassen, ist für sie nicht möglich.
Für Radfahrende der Gruppe 1 – das betrifft unter anderem viele Kinder – finden sich zusammenhängende Velostrecken, die ihre Stressbelastung nicht überschreiten, praktisch nur in den Naherholungsgebieten am Zürichberg, Käferberg oder Uetliberg.
Anbindung und Erreichbarkeit der öffentlichen Dienste
Im nächsten Schritt habe ich die einzelnen Netzwerke quantitativ beurteilt: Wie gut sind sie miteinander verbunden? Welche Zugänglichkeit zu öffentlichen Diensten bieten sie? Dazu wurden 10’000 Fahrten mit unterschiedlicher Länge zwischen verschiedenen Punkten innerhalb der einzelnen Netzwerke simuliert, beispielsweise zu Schulen, medizinischen Einrichtungen, Läden oder ÖV-Haltestellen.
Wenig überraschend, die «Hard Core Velofahrer:innen» kommen überall hin. Für Velofahrende der Gruppe 2 sind jedoch selbst kurze Fahrten von weniger als einem Kilometer nur in jedem fünften Fall auf Strassen möglich, die ihrem Stressniveau entsprechen. Für 80 % der Fahrten müssen sie mehr als einmal einen Streckenabschnitt mit höherem Stressniveau benutzen oder einen übermässigen Umweg von mindestens dem 1,5-fachen der direkten Fahrtstrecke in Kauf nehmen.
Zugänglichkeit zu öffentlichen Diensten mit dem bestehenden Velonetzwerk: Für Velofahrende der Gruppe 2 (LTS 2, hellgrün) sind selbst kurze Fahrten bis zu einem Kilometer Länge (ganz links) nur in jedem fünften Fall auf Strassen möglich, die ihrem Stressniveau entsprechen. Eine bis zu 5 km lange Fahrt (rechts) können sie nur in 3% der Fällen auf Strassen absolvieren, auf denen sie sich wohl fühlen.
Verbesserungen durch die Velovorzugsrouten?
Die geplanten und teilweise bereits umgesetzten Velovorzugsrouten im Rahmen der «Velostrategie 2030» der Stadt Zürich werden Verbesserungen für alle Velofahrer:innen bringen, jedoch vergleichsweise stärker für die geübten Velofahrer:innen der Gruppen 3 und 4. Die Bedürfnisse der grossen Gruppe der potenziell am Velofahren Interessierten (Gruppen 1 und 2) werden damit aber noch nicht vollständig berücksichtigt. Die Routen, die für sie und ihre Stresstoleranz nutzbar sind, bieten ihnen immer noch kein alltagstaugliches Netz.
Das grosse Potenzial des Basisnetzes
Daher modellierte ich einem weiteren Schritt den Ausbau der Basisrouten in der Stadt Zürich. Dabei zeigte sich ein grosses Potenzial – vor allem für Velofahrende mit geringer Stresstoleranz. So könnten selbst Velofahrende der Gruppe 1 mehr als 30% der Fahrten auf Routen zurücklegen, die ihrem Stresslevel entsprechen.
Vergleich des Routennetzes mit den geplanten Vorzugsrouten und des Routennetzes mit zusätzlichem Ausbau des Basisnetzes. Bewegen Sie den Schieberegler von links nach rechts, um den Unterschied zu sehen.
Wenn das Routennetz auch die Bedürfnisse der schwächeren Velofahrenden erfüllt, ist davon auszugehen, dass insgesamt mehr Menschen in der Stadt Zürich Velo fahren werden. Das erhöht nicht nur die Sicherheit für alle Velofahrenden, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einer klimafreundlichen Stadt der Zukunft.
Storymap meiner Masterarbeit
Stressfreie Konnektivität & Zugänglichkeit im Velonetz
MSc Thesis
Fässler, Tim (2024): Low-Stress Connectivity and Accessibility; ‹Leave no one behind› in the Bicycle Network in the City of Zurich
Credits: Icons der Abbildung «Level of traffic stress (LTS) Gruppen» von Good Ware, Nsit, mangsaabguru, photo3idea_studio und Freepik auf Flaticon.com
Wunderbar zugänglich aufbreitete, wichtige Info, die hoffentlich der Unterstützung der Velolobby zu Gute kommt! Danke!